Der zweite Blick

zweite_blick_01

Jetzt, da alles unter Dach und Fach war, wollten wir unsere Kapitalanlage ausführlicher unter die Lupe nehmen und natürlich auch unsere Mieter näher kennenlernen.

Das Kaufobjekt befindet sich mitten in einer hessischen Kleinstadt und hat den typischen Charme eines in den Fünfzigerjahren gebauten Hauses. Der Vorgarten ist ordentlich gemäht und die Hofeinfahrt wird gesäumt von einer Zierhecke, die sehr akkurat gestutzt ist. Der damalige Hausmeister unseres neu erworbenen 6-Familien-Hauses hat das typische doppelseitige Ellenbogensyndrom – entstanden durch jahrelanges Aufstützen auf seiner Fensterbank. Gemildert wurden die Abdrücke nur durch ein großflächig aufgelegtes Kissen, das ihm die täglichen Qualen des stundenlangen Aus-dem-Fenster-Guckens erträglicher gestaltete.

So gerüstet, konnte er uns schon aus weiter Entfernung einer Sichtprüfung unterziehen. Irgendwie machte es den Eindruck, als habe der König persönlich seine neuen Untertanen zur Audienz geladen. Dieser Eindruck verstärkte sich zunehmend im persönlichen Gespräch, und uns wurde mehrfach mitgeteilt, wie groß unser Glück doch sei, einen so erfahrenen Hausmeister beschäftigen zu dürfen. Er machte ehrlich gesagt keinen sehr beschäftigten Eindruck auf mich, aber man soll nicht immer nach dem ersten Anschein gehen. Doch, soll man – aber das wurde uns, wie so vieles andere, erst später bewusst. Diesen Typ von Hausmeister finden Sie heute in fast jeder zweiten Wohnanlage, weshalb viele von uns im Laufe ihres Lebens schon Erfahrungen mit dieser Spezies Mensch machen durften: Ohne dass er jemals auch nur einen Cent an Eigenkapital eingesetzt hat, fühlt er sich dennoch als Eigentümer der Immobilie. Dabei schätzt er es überhaupt nicht, wenn man ihm in seine Angelegenheiten hineinpfuscht. Pünktlich um 19 Uhr wird die Haustür doppelt abgeschlossen und für das Wiederaufschließen vor 6 Uhr morgens müssen schon wirklich stichhaltige Gründe vorliegen, wie zum Beispiel Abholung durch den Notarztwagen oder gar der persönliche Todesfall. Natürlich gibt es darüber hinaus eine nicht unerhebliche Liste an Dingen, für die ein Hausmeister im Allgemeinen nur wenig Verständnis aufbringt. Sehr unwirsch reagiert der Hausmonarch etwa auf ein Brennenlassen des Kellerlichts, mangelnde Hygiene der Eingangstreppe und das Laufen mit schmutzigen Schuhen im Treppenhaus, vor allem in den Wintermonaten. Weitere Minuspunkte können sich die Mieter einhandeln, wenn sie ihr Fahrrad oder den Kinderwagen länger als drei Minuten unbefugt in den Hauseingang stellen. Unser Exemplar von Ordnungskraft hatte eine alte Dame von über achtzig Jahren angewiesen, ihr Fahrrad jeweils in dem dafür vorgesehenen Fahrradkeller abzustellen. Ordnung muss sein. Eine weitere vom Hausmeister nicht zu akzeptierende Unart ist der verschwenderische Umgang mit Ressourcen jeglicher Art. So wurden Mieter eines Einpersonenhaushalts mehrfach dafür gerügt, dass bei ihnen in zwei verschiedenen Zimmern gleichzeitig Licht brannte. An Damen beziehungsweise Herrenbesuch nach dem ordnungsgemäßen Verschluss der Eingangstür war überhaupt nicht zu denken. Für alle diejenigen, die sich schon vor 19 Uhr eingeschlichen hatten, war es äußerst ratsam, sich nicht in flagranti erwischen zu lassen.

Hunde und Kinder waren stets an der Leine beziehungsweise an der Hand zu führen und das Betreten des Rasens war strengstens untersagt. Es gab ganz wenige Ausnahmen, die dazu berechtigten, die Grünfläche behutsam zu begehen. Hierzu gehörten das wöchentliche Rasenmähen und das vom Herrscher des Hauses persönlich autorisierte Aufstellen von exklusiven Rasendekorobjekten wie zum Beispiel Gartenzwergen.

zweite_blick_02

Mit all diesen Gepflogenheiten waren die Bewohner bestens vertraut, denn die große Mehrzahl der Mieter wohnte schon länger als 25 Jahre im Haus. Leider hatte unser Vorbesitzer es versäumt, wenigstens einmal die Miete anzuheben. So lag die Durchschnittsmiete für die 50m²-Wohnungen bei knapp 100 Euro kalt, was ungefähr dem Preisgefüge des Baujahrs 1954 entsprach.

Durch erste schnelle Hochrechnungen stellte ich fest, dass ich die Amortisation des Gebäudes vermutlich nicht mehr erleben würde. Bei diesen Berechnungen hatte ich mein Lebensendalter großzügig mit 107 Jahren angesetzt und sogar zugrunde gelegt, dass alle Mieter immer die komplette Miete zahlten. Dies stellte sich als fataler Irrtum heraus – aber dazu kommen wir später.

Jeder durchschnittlich intelligente Erdenbürger würde nun wahrscheinlich vermuten, dass das Anspruchsdenken eines Mieters, der nur 100 Euro monatlich zahlt, dem niedrigen Mietzins angepasst ist. Doch weit gefehlt: Schon beim ersten Treffen wurde uns eine Liste von gewünschten Veränderungen, Optimierungen und notwendig scheinenden Umbaumaßnahmen vorgelegt, die selbst bei Mieten von über 800 Euro aufwärts nicht umsetzbar gewesen wären.

Auf meine Nachfrage, was denn in den letzten 40 Jahren saniert und verändert worden sei, kam ans Tageslicht, dass unser Vorbesitzer freundlicherweise die ganzen Jahre gewartet hatte, um mich vollumfänglich in jeden Verbesserungs und Sanierungsprozess einzubinden. Kurzum, er hatte in den ganzen Jahren keine einzige Reparatur vorgenommen. Dies war natürlich sehr vorausschauend und auch kostenbewusst gedacht, zumindest aus seiner Sicht. Diesem Umstand hatten wir es nun zu verdanken, dass sich bei unseren neuen Mietern der eine oder andere Wunsch nach Verbesserung innerhalb der Hausgemeinschaft manifestiert hatte. Zwischen diesen Ansprüchen und unseren Planungen klaffte eine nicht unerhebliche Finanzlücke, die es zu schließen galt. So langsam verpuffte bei uns die bis dahin herrschende Vorfreude und unsere Gesichtszüge entgleisten unmerklich. Das mussten wir erst einmal sacken lassen, so wie die Eingangstreppe, die laut Hausmeister stark abgesackt war und dringend der Erneuerung bedurfte. Da bot sich ein erneuter Rundgang durch das komplette Haus inklusive Dach und Keller geradezu an, zumal bei der ersten Besichtigung nur zwei Wohnungen zugänglich gewesen waren. Das Resultat: Vorsichtig formuliert konnte der Begriff „historisch“ den Zustand unserer Immobilie am besten umschreiben.

zweite_blick_03

Wenigstens die Gefahr von Schimmelbildung konnte man aber erst einmal ausschließen, da sich Innen und Außenluft in einem sehr regen Austausch befanden. Vermutlich bedingt durch die Tatsache, dass die Verglasung aus hochbrechenden Gläsern bestand, zumindest wirkten sie so dünn und zerbrechlich, wie man dies eigentlich nur aus der zeitgenössischen Brillentechnik kennt. Allerdings hätten wir uns gewundert, wenn eine so hochmoderne Technik bereits in unserem doch eher antiken Haus Einzug gehalten hätte. Apropos Einzug – im ganzen Gebäude herrschte, wie gesagt, ein ständiger Zug und unser erster Verdacht, der Grund sei ein geöffnetes Fenster, bestätigte sich leider nicht.

Auf der Heimfahrt kam schon wieder leichter Optimismus auf, auch wenn der Start selbst bei positivster Betrachtung nicht als verheißungsvoll zu bezeichnen war. Und mal ganz unter uns: Wie peinlich ist das denn, schon am ersten Tag aufzugeben und das ganze Objekt wieder zu verkaufen. Wäre uns zufällig ein Käufer über den Weg gelaufen, hätten wir trotzdem darüber nachgedacht, obwohl eigentlich noch nichts wirklich Gravierendes passiert war. Die schlimmen Dinge sollten erst später auf uns zukommen, aber das wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht.